Die Gesichter der Integration
Seit sechs Jahren fördert die Hertie-Stiftung Zuwandererkinder. Aus dem Stipendienprogramm ist mittlerweile ein nationales Netzwerk geworden
Wer fällt in der Schule unangenehm auf? Einwandererkinder. Wer bricht am häufigsten die Schule ab? Einwandererkinder. Wer ist schwer auf dem nachschulischen Arbeitsmarkt vermittelbar? Einwandererkinder. Und doch gibt es einen Lichtblick: die Start-Stipendiaten. Wer knapp 500 von ihnen bei ihrem jüngsten Jahrestreffen beobachtete und ihnen zuhörte, konnte für keinen Moment verstehen, wo die Sorgen um die Einwandererkinder herkommen: ein Haufen fröhlicher, intelligenter Jungen und Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren mit perfektem, fast akzentfreiem Deutsch. »Wir geben Integration ein Gesicht« ist ihr Motto, und was man sieht, ist erstaunlich.
Die Hertie-Stiftung legte 2002 in Hessen das Start-Schülerstipendienprogramm für begabte Zuwandererkinder für zunächst 20 Schüler auf. In sechs Jahren ist aus dem kleinen hessischen Projekt ein nationales Netzwerk mit demnächst 550 Stipendiaten geworden. Sechs Jahre, die zeigen, dass hohe schulische Leistungen durch gleichzeitige Förderung und Forderung erreicht werden können. Jeder Stipendiat und jeder Alumnus kann als Botschafter einer gelungenen Integrationsidee gelten. Damit Start weiterwachsen kann, hat die Hertie-Stiftung im vergangenen Jahr die Start-Stiftung gegründet, die sich ausschließlich um dieses Programm kümmert. Schon längst war die Hertie-Stiftung nicht mehr allein bei ihrer »Investition in Köpfe«, viele kleinere und größere Stiftungen, Ministerien und Senate haben sich angeschlossen sowie Landesbehörden, Städte, Unternehmen, Vereine und Privatpersonen.
»Meine Vater hat mir immer vermittelt, dass Schule wichtig ist«
Viel zu lange hat die Gesellschaft auf die Begabungsreserven der Einwanderer verzichtet, viel zu gering war stets ihr Anteil an Fachoberschülern, Gymnasiasten und Studenten. Die Hertie-Stiftung wollte das ändern und hat dabei nicht nur begabte, sondern vor allem auch engagierte Schüler gefunden und unterstützt. Selbst (noch) mangelnde Deutschkenntnisse sind kein Hinderungsgrund für die Aufnahme ins Programm.
Was sind das für Jugendliche, die den Start-Sprung schaffen? Sie müssen gut in der Schule sein, also schon Leistung und Motivation gezeigt haben, und sie müssen sozial engagiert sein. Sie müssen aber auch bereit sein, nicht nur die finanziellen Segnungen (ein Computer mit Internetanschluss, 100 Euro Bildungsgeld pro Monat) anzunehmen, sondern auch an Bildungsseminaren teilzunehmen, Kontakt zu ihren Betreuern zu halten, halbjährlich ihre Zeugnisse und Berichte über ihren Werdegang abzuliefern und sich in ihren Regionalgruppen einzubringen.
Die Stipendiaten kommen aus 57 verschiedenen Ländern von Afghanistan bis Kosovo, von Kasachstan bis Libanon, von Vietnam bis Ghana. Die meisten Schüler sind türkischer Herkunft, gefolgt von denen aus Russland und den alten GUS-Staaten.
Latifate ist vor 16 Jahren aus Burkina Faso nach Deutschland gekommen, da war sie erst zwei. Die 18-Jährige trägt Kopftuch, sie wohnt in Iserlohn und ist seit zwei Jahren Stipendiatin. Ihre Mutter ist Küchenhilfe, ihr Vater Arbeiter, sie macht nächstes Jahr Abitur. Eine Lehrerin hat ihr die Bewerbung bei Start empfohlen. Latifate schätzt das Programm, »weil man so viele Leute mit so unterschiedlichen Talenten kennenlernt«. Sie will Medizin studieren, ihre Leistungskurse sind Mathematik und Biologie.
TEIL 2
»Ich will etwas zurückgeben, unsere Werte in die Gesellschaft einbringen«
Auch für den 15-jährigen Salif kam Start zur rechten Zeit. Sein Vater wanderte vor 29 Jahren aus Gambia nach Deutschland ein, Salif wurde hier geboren. »Mein Vater hat mir immer vermittelt, dass Schule wichtig ist«, sagt Salif, »auch weil er nie diese Möglichkeiten hatte. Er war nur auf einer muslimischen Schule, da lernt man ja Sachen wie Mathematik überhaupt nicht.« Salif, der neben Deutsch noch Mandinka und Englisch fließend spricht, ist Mittelstufensprecher seines Gymnasiums. »Ich will unbedingt ein gutes Abitur machen, um später Medizin studieren zu können.« Seine Lieblingsfächer sind Politik, Wirtschaft und Geografie. Hat er Neid unter seinen Klassenkameraden erfahren? »Meine deutschen Freunde haben sich echt gefreut, andere finden es blöd, dass es kein Start für Deutsche gibt, und einer ist richtig neidisch, der ist auch Ausländer und hat es bei Start nicht geschafft.«
Angelika ist vor viereinhalb Jahren mit ihrer Familie aus Kasachstan nach Deutschland gekommen. Seit zwei Jahren ist sie Stipendiatin. Ihre Mutter, Bergbauingenieurin, und ihr Vater, Bauingenieur, »haben mir die Liebe zur Bildung in die Wiege gelegt«, sagt die 18-Jährige. Die Eltern dürften hier leider nicht arbeiten, weil ihre Zeugnisse nicht anerkannt werden, sagt Angelika. Das russische Abitur ihrer älteren Schwester wurde auch nicht anerkannt, doch sie habe das deutsche Abitur nachgeholt und studiert.
Wenn die Jugendlichen erzählen, scheint es, als seien sie längst in Deutschland angekommen. So wie Maryam aus Afghanistan. Sie ist seit drei Jahren Stipendiatin, seit sieben Jahren in Deutschland. Ihre Eltern haben ihr stets den Wert von Bildung gepredigt: »Wenn ich 13 Punkte bringe, fragen sie, warum ich nicht 15 Punkte habe. Sie sind schwer zufriedenzustellen.« Der Vater ist Geologe, die Mutter Lehrerin gewesen. »Sie zeigen ihr Heimweh nicht, weil sie uns deutsche Wurzeln geben wollen.« Oder wie Muna, 18 Jahre alt, aus Somalia. Sie ist bei einer Tante aufgewachsen, seit ihre Eltern in den Kriegswirren verschollen sind. Seit vier Jahren ist sie Stipendiatin und macht kommendes Jahr Abitur. Jetzt will sie sich zur Stipendiatensprecherin wählen lassen. »Ich will etwas zurückgeben. Ich will unsere Werte in die Gesellschaft einbringen. Ich möchte andere Einwanderer motivieren.«
Auch Volkahn aus Hamburg sagt Sätze wie: »Wir müssen als Multiplikatoren funktionieren. Ich habe Deutschland sehr viel zu verdanken, ich kann frei meine Meinung sagen.« Oder: »Ich will etwas zurückgeben.« Oder: »Wir müssen die jungen Menschen gewinnen.« Volkahn hat eine Ehrennadel seiner Stadt für sein soziales Engagement bekommen. Er hat ein Fußballturnier für Jugendliche organisiert und dabei Geld für Unicef gesammelt. Nach dem 11. September hat er in der Kirche ein gemeinsames Gebet angeregt. Volkahn kommt aus einer kurdisch-türkischen Familie, betont aber vehement: »Mich interessiert Politik hier. Ich bin Deutscher durch und durch!« Sein Vater ist Kommunalpolitiker, er selbst geht auf ein Aufbaugymnasium.
Die Start-Familie, das betonen alle Stipendiaten, ist ihr Anker, auch in schwierigen Situationen. Sie ist eine Familie, die sie nicht nur finanziell unterstützt, sondern auch inhaltlich in Seminaren, Sommerkursen und Gesprächen mit Betreuern. Volkahn sagt mit Blick in die Zukunft: »Ich hoffe, dass meine Kinder Start für die Integration nicht mehr brauchen.«
http://www.zeit.de/2008/33/C-Start?page=2